2021

Schwedisch Lappland
im Herbst

Mit dem Camper nach Nordschweden

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Es ist Spätsommer in Berlin; ein warmer August in einem Jahr, welches in die Geschichtsbücher eingehen wird. Zum ersten Mal planen wir eine Reise ohne die Gewissheit, dass wir sie auch antreten können. Wochenlanges Warten und die Hoffnung auf offene Grenzen. Und dann, 4 Tage vor geplanter Abfahrt, die Bestätigung: Es geht endlich wieder gen Norden!

Der Plan: Hamburg – Kopenhagen – Stockholm – Lappland – Rovaniemi – Karelien – Helsinki + Turku – Åland – Bohuslän – Nordjütland – Hamburg in 28 Tagen.

Die Realität: Am 25. September, Tag 5 on the road, schließt Finnland seine Grenzen. Wir sind auf halber Strecke in Richtung Lappland, Breitengrad 62 und beschließen: Wir sind im Norden, ab jetzt langsamer.

Wir lassen die ersten vier Tage Revue passieren, denn knapp 1.400km liegen tatsächlich bereits hinter uns:
Nach kurzem Zwischenstopp bei Coffee Collective in Kopenhagen über die Öresundbrücke nach Schweden. Unser erstes Lagerfeuer und die ersten Schwäne, die – wie wir später lernen, anscheinend zu jedem schwedischen See dazugehören. In Gävle besuchen wir die erste Whiskydistille Schwedens, Mackmyra, und übernachten an unserem ersten neuen Lieblingsort, in Skärså. Morgens begrüßt uns dort ein Rotkehlchen im herbstlichen Nebel und abends begleitet uns der Mond über den leeren Straßen. Wir sammeln Blaubeeren für unser Frühstück, trinken Kaffee in kleinen Buchten und folgen den roten Holzkreuzen auf ersten kurzen Wanderungen. Verrottende Volvos grüßen von verlassenen Grundstücken und „Achtung! Björn!“ vom Straßenschild.

Als wir von der Grenzschließung erfahren, stehen wir gerade im strömenden Regen auf dem Parkplatz in Norrfjällsviken und debattieren, ob wir dennoch eine Runde durchs Naturreservat stromern wollen. Als also feststeht, dass wir im Grunde nirgendwo mehr hin „müssen“ und von nun an alle Zeit der Welt haben, ist es klar: Wir wollten Norden, wir wollten Wetter. Regenhose, improvisierter Kameraschutz und rein ins Vergnügen!

2 Stunden, unzählige beflechtete rote Steine und waagerecht prasselnde Regentropfen später, sind wir gefühlt nur etwa 5 gute Fotos, dafür aber eine unbezahlbare Erkenntnis reicher: Alles ist nass. Kameras, Jacken, Hosen – aber leider auch meine Füße in den Schuhen und Constantin im Grunde komplett, trotz Regenjacke.

Das Weltnaturerbe Höga Kusten wird uns also vor allem aufgrund neu gekaufter Wanderschuhe und Jacken in Erinnerung bleiben. Vielleicht sollten wir eines Tages wiederkommen. Ohne den Regen.

Am Leuchtturm von Korgubben verabschieden wir uns von der Schwedischen Ostküste. Ab hier geht es Richtung Leere, Wildnis und Einsamkeit. Der Vildmarksvägen ruft und der Stekenjokk Pass – das Tor zu Schwedisch Lappland. Wir haben keine Ahnung was uns erwartet, aber den Kopf voller Träume.

Es sind Orte wie diese, an denen das Reisen im Bulli alle Trümpfe ausspielt. Dank Jedermannsrecht und spärlicher Besiedlung schlagen wir unser Nachtlager auf, wo immer wir wollen. Jeden Morgen erwachen wir an einem anderen See, jeden Tag zählen wir die Stunden in Kaffeepausen in Wäldern, an Stränden, auf Hochebenen und an Wasserfällen. Und jeden Abend halten wir einfach an, wenn wir müde sind von Wetter und Landschaft und Erlebtem.

Nebelwälder und Herbstgold begleiten uns an der Grenze zwischen Nordjämtland und Västerbotten. Dorotea (südsamisch: Döörte) mit knapp 1.500 Einwohnern zählt zwar als größere Ortschaft, doch selbst hier fühlen wir uns schon wie an einem letzten Außenposten vor der Wildnis. Die Autos werden massiver, die Menschen rauer, der Wind kühler.

Bei Håfarkot wandern wir durch dichten Ulmenwald auf den Kolberget und werden statt mit weiter Aussicht auf Seen und Wälder mit mystischem Nebel zwischen Tannenspitzen belohnt. Überhaupt scheinen Nebel und Wolken den Regen abgelöst zu haben und begleiten uns von nun an abwechselnd.

Für zwei Nächte schlagen wir unser Lager auf dem Campingplatz in Gäddede auf, waschen Kleidung, sichern Fotos, füllen die Vorräte auf und spazieren gemütlich durch das Dorf. Wir befinden uns knappe 4km vor der norwegischen Grenze und außer uns bevölkern nur ein weiteres Päärchen mit Schlauchboot und eine neugierige Gans den Platz. Im Abendlicht hacken wir Holz, essen Köttbullar und Potatis von der Feuerbox und fragen uns, wie es wohl wäre, von nun an immer am Wasser aufzuwachen…

Das Morgenlicht weckt uns sanft, wir stehen auch ohne Wecker zwischen 6:30 und 8:00 auf. Bevor wir uns zur Passstraße aufmachen, warten noch zwei Besonderheiten auf uns: Wir treffen Tommy in der wohl kleinsten Mikrobrauerei aller Zeiten, die er, nachdem er vor 23 Jahren in das Haus seines Großvaters gezogen ist, dort im Keller eingerichtet hat. Und besichtigen als perfekten Kontrast Schwedens größten Canyon mit dem 43 Meter hohen Wasserfall Hallingsåfallet – es bleibt abschließend ungeklärt was von beidem beeindruckender war.

Am Stora Blåsjön biegen wir auf eine Schotterpiste und folgen ihr bis nach Ankarede, einem Jahrhunderte alten Versammlungsplatz der Sámi. Das Gold der im Wind rauschenden Birken spiegelt sich im Kreuz auf der strahlendweißen Kirche – Drachenköpfe an ihren Ecken beobachten schweigend. Am Flußufer rund 30 samische Holz Tipis (auf Sámi: Goathi) mit aus Rentiergeweihen gefertigten Türgriffen.

Wir nähern uns dem Fjäll und der Baumgrenze. Der Stekenjokk ist einer der kältesten Orte des Landes. In wenigen Wochen werden Winterwinde über die Ebene fegen, wird der Schnee sich meterhoch türmen. Doch heute fühlen wir uns, als würden wir durch eine Zwischenwelt fahren; unser Alltag scheint ferner als je zuvor. In frischem Grün und saftigem Gelb bis hin zu tiefem Blutrot ziehen sich Teppiche aus Moosen und Gras über die Ebene. Schnell fliehende Wolken tragen einen Wind mit sich, der mit seinem Flüstern meinen Geist anfüllt. Vor den fernen Berghängen grast eine Rentierherde in der hügeligen Weite, die Leittiere sind eindeutig zu erkennen. Dieses Land ist ihres und das ihrer Hüter.

Meine Kamera hängt unbeachtet an meiner Seite, Zeit und Verortung verlieren ihre Bedeutung. Ich weiß, dass Constantin die Bilder mitbringt; ich stehe still, staune und sammle meine Worte. Dieser zeitlose Moment wird einer derer sein, die sich als Essenz des Ortes in uns festsetzen. Dessen Gefühle für immer Gegenwart bleiben; dessen Gewicht, Temperatur und Melodie wir hervorholen werden, wann immer wir an Schweden denken.
Und als wir ins Auto steigen, lächeln wir uns an, glücklich, dankbar, ohne Worte.

Ruhe und Leere begleiten uns auch die kommenden Tage. Mit Fatmomakke besuchen wir ein weiteres Sámi-Dorf, mindestens 250 Jahre ist es alt. Über eine schmale Brücke gelangen wir auf eine Art Halbinsel, die Zelte und Vorratshäuser verteilen sich über eine größere Fläche, liegen zwischen Bäumen und hinter Hügeln versteckt. Am zentralen Festplatz steht die „Maystang“ einsam und verlassen, weiße Spitzengardinen verbergen, was hinter den Fenstern liegt. Holzplanken sind teilweise gebrochen oder versinken im Moorast, die Kirche ist verschlossen. Auch hier spüre ich die Ahnen, fühle Glück und Trauer gleichermaßen, denn niemand ist hier, der ihre Geschichten mit uns teilen kann.

Auf den staubigen Schlaglochpisten mit hölzernen Strommasten am Wegesrand fühlen wir uns an Kanada oder Alaska erinnert. Mit so viel Einsamkeit hatten wir hier nicht gerechnet, die Weite unterschätzt, die endlos vorbeiziehenden Wälder.

Wir schlafen an einem weiteren spiegelklaren See, waschen uns in der Morgendämmerung in seinem eisigen Wasser. Auch Arvidsjaur, den Großteil des Jahres in fester Hand von Touristen und Autoliebhabern – denn hier werden im Winter neue Modelle getestet, können die Erlkönige gesichtet werden – liegt verlassen und wir halten nur kurz, um Moltebeeren-Marmelade und Blaubeertee in einem kleinen Laden zu kaufen.
So selten wir hier Menschen begegnen, so häufig „treffen“ wir Oldtimer in Straßengräben, auf verlotterten Höfen und an Kreuzungen. Und während wir noch über die Volvo-Dichte diskutieren, überqueren wir beinahe unbemerkt den nördlichen Polarkreis. Wir sind in Norrbottens Iän angekommen, der nördlichsten Provinz Schwedens, die zwei Rentiere auf ihrem Wappen trägt. Auf fast einem Viertel der Landesfläche leben dabei nicht einmal 3% der Bevölkerung.

Im letzten Abendlicht erreichen wir Jokkmokk (auf samisch Jåhkåmåhkke oder Dálvvadis), Schwedens Zentrum der Samenkultur und landen mehr zufällig auf dem Campingplatz „Skabram“. Dort begegnen wir Bruno + Fran, zwei Chilenen, die seit knapp einem Jahr den Campingplatz verwalten und – wie sich später herausstellt – vor ein paar Jahren als Sous-Chefs auch in Berlin gelebt haben. Mitten im einsamsten Landstrich Schwedens finden wir plötzlich Gesellschaft und so etwas wie ein neues Zuhause auf Zeit.

Unser Bulli wird hier seinen Stammplatz finden, von dem aus wir zu Tagestouren aufbrechen. Die Abende verbringen wir mit Bruno & Fran am Lagerfeuer, braten Rentierfleisch von der lokalen Sámi -Schlachterei „Sápmi Ren + Vilt“ und teilen Geschichten von Reisen und fernen Ländern, von Heimat und vom Sinn der Existenz. Und morgens freuen sich die beiden über unseren mitgebrachten Kaffee, denn „Specialty Coffee“ gibt es hier oben einfach nicht.

Wir hatten viel vor im hohen Norden. Doch Dauerregen und schlechte Sicht verhindern Helikopterflüge über die atemberaubenden Landschaften und selbst jede längere Wanderung wäre für uns Anfänger kaum gefahrlos zu bewältigen. Am ersten Regentag beschließen wir also es ruhig anzugehen und wandern lediglich eine kleine Runde auf dem direkt angrenzenden Hollandleden. Wilder als erwartet finden wir einen Haufen erstaunlich großer Knochen auf dem höchsten Berghügel und gehen davon aus, dass so etwas hier normal ist. Die erstaunten Gesichter von Bruno und Fran belehren uns eines Besseren. Auch sie sind unsicher, was wir da eigentlich gefunden haben. Langsam verstehe ich warum so viele Krimis im hohen Norden spielen…

Noch im Halbschlaf gibt es morgens erstmal nasse Füße; denn ein kleiner See hat sich um den Bulli gebildet und es regnet noch immer. Wir fahren zur Kvikkjokk Fjällstation, wandern ein ganzes Stück Richtung Kungsleden und müssen feststellen, dass der Sarek Nationalpark, den wir so gerne sehen wollten, nicht nur unsere Vorstellungen von Größe und Abgeschiedenheit, sondern auch in Sachen Erreichbarkeit für zwei blutige Anfänger wie uns, unermesslich weit übersteigt. Diesmal reicht es nur für einen ersten Eindruck – wir üben uns in Demut; Enttäuschung gestehen wir uns in diesem Jahr und bei unserem Glück dieser Reise nicht zu.

Bei Granudden dann eine unerwartete Fügung: Auf einer Landzunge direkt neben der Straße eine Gruppe Rentiere. Und was für ein Schauspiel!

Ein Junger Wilder versucht wenigstens eines der Weibchen vom offensichtlichen Chef der Herde „abzugreifen“. Er sammelt Mut, nähert sich stolz und siegessicher immer wieder dem majestätischen Anführer, der bis zu einer unmarkierten Linie eher müde als beeindruckt wirkt. Doch sobald der Jüngere einen Schritt zu nahe kommt, verteidigt er sein Harem und der einsame Herausforderer sucht panisch das Weite, lange bevor es zu einem ernsthaften Kampf käme. Die Weibchen bleiben entspannt am Seeufer liegen oder knabbern an ein paar Sträuchern.

Zugegeben ein wenig amüsiert machen wir uns auf den Heimweg, wo uns bei unseren neuen Freunden ein wahres Festmahl erwartet. Müde, zufrieden und gesättigt fallen wir in einen traumlosen Schlaf.

In der Kühle des folgenden Morgens beschließen wir spontan die letzte Stadt vor Norwegen zu besuchen. 390km Strecke, Abisko liegt auf gleicher Höhe wie die Lofoten. Birken und Tannen werden kleiner und langsam senkt sich Nebel herab. Kiruna versinkt in dichtem Grau, das sämtliches Tageslicht verschluckt; und die riesige Eisenerz-Mine ist nur zu erahnen. Die Temperaturen fallen merklich, Abisko entpuppt sich mehr als Basecamp, denn als Stadt und als wir noch kurz die letzten Meter bis zur norwegischen Grenze fahren, liegt auch diese verlassen. Die äußere Leere wird plötzlich auch zu einem inneren Zustand. Eine erfüllte Leere jedoch, ganz ohne Aufgabe und nun sogar ohne ein weiteres Ziel auf der Karte. In diesem Moment sind wir einfach hier, an Schwedens Nordende, nördlicher als je zuvor.

Langsam verabschiedet sich der Herbst: Bei gefühlten 2° und unter schnell ziehenden Sturmwolken starten wir dick eingepackt Richtung Rissajaure, dem klarsten See Schwedens. Vor uns liegen gut 900 Höhenmeter und das Kärkevagge Tal (samisch: Gergevággi) voller endzeitlicher Felsbrocken. Die Szenerie eingerahmt von den steilen Felswänden der Berge Vassitjåkko und Kärketjårro, auf deren Kuppen noch Schneereste vom letzten Winter liegen. Zarte Wasserfälle fließen wie Seidenschnüre am schroffen Gestein entlang, werden von den Winden zerstreut. Schmale Pfade enden an riesigen Felsklumpen, wir klettern, stapfen und staunen. Die Formen und Farben wandeln sich stetig, mal liegen uns bunte Scherbenhaufen zu Füßen, die wie zerbrochenes Porzellan anmuten, dann wieder schichtet sich das dunkle Gestein vertikal in Blöcken. Vor 9.000 Jahren schmolz hier das Inlandeis der letzten Eiszeit, das Tal liegt seither nahezu unberührt und selbst Wanderer verirren sich nur selten hier her.

Versteckt in einem natürlichen Windschutz aus beinahe schwarzem Fels entdecken wir eine kleine Forschungshütte von schwedischen Geologen. Der Windmesser dreht sich schwindelig. Hinter jedem Bergkamm erwartet uns ein neues Tal im Tal. Wir achten nicht auf die Zeit und lassen uns völlig auf das Naturerleben ein, folgen den schmalen Trampelpfaden mit neugierigen Kinderaugen. Bis es dann plötzlich vor uns auftaucht: Das Ende des Tals, eine Felswand, an der ein Rinnsal in den dunkelblauen und spiegelglatten Trollsjön fällt, der vor uns im Talkessel liegt. Er wird zum Symbol für das Ende unserer Reise. Die Fahrtrichtung wechselt, die innere Leere weicht einem Potpourri aus allen Gefühlen der Welt.

Mit einem lachenden und einem weinenden Auge – vom eisigen Wind – erreichen wir den Bulli. Eine kurze Stärkung, Zimtschnecken und Kaffee. Kurz hinter Abisko kehrt der Regen zurück. Der See Torneträsk verabschiedet uns mit Regenbögen, doch wenige Minuten später versinkt wieder alles im Nebel. In Kiruna müssen wir uns diesmal nicht nur die Mine denken, sondern die ganze Stadt; in Schrittgeschwindigkeit navigieren wir durch die Nacht. Zurück in Skabram brechen unsere letzten Stunden in Lappland an, denn hier wird er morgen früh wirklich beginnen, unser langer Heimweg Richtung Süden.

Photography

Constantin Gerlach, Laura Droße

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Laura Droße

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